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Politikerin, Frauenrechtlerin, AWO-Gründerin: Marie Juchacz: Eine herausragende Persönlichkeit der deutschen Geschichte

Ganz ein Kind ihrer Zeit – und dabei von absolut außergewöhnlichen Fähigkeiten: Marie Juchacz, Gründerin der Arbeiterwohlfahrt, ist zweifellos eine der herausragenden Persönlichkeiten, die das 20. Jahrhundert prägten.

Marie Juchacz geb. Gohlke wurde am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe geboren – und damit in einer Kleinstadt in einer vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Region der Provinz Brandenburg. Sie ist als Tochter eines Zimmermanns aufgewachsen und besuchte bis zum 14. Lebensjahr die Volksschule. Anschließend wechselten die Arbeitsstationen schnell: drei Jahre als Dienstmädchen in verschiedenen Haushalten, Arbeiterin in einer Netzfabrik, zwei Jahre als Wärterin in der „Provinzial-Landes-Irrenanstalt“, schließlich Näherin in der Werkstatt ihres späteren Mannes, des Schneidermeisters Bernhard Juchacz. In dieser Zeit begann sie auch, angeregt durch ihren älteren Bruder, sich für die Politik und für die Sozialdemokratie zu interessieren.

Nach der Trennung von ihrem Ehemann siedelte Marie Juchacz 1906 gemeinsam mit ihren zwei Kindern und ihrer Schwester Elisabeth nach Berlin über. Wie sich zeigen sollte, hatten die beiden Schwestern eine außerordentlich enge Beziehung zueinander. Wirtschaftlich hielten sie sich zunächst mit dem Nähen in Heimarbeit über Wasser.

In Berlin näherten sich die beiden Frauen auch weiter an die SPD an und traten dem Frauen- und Mädchenbildungsverein Schöneberg bei. Mit derartigen Vereinen tarnten Sozialdemokratinnen ihr politisches Engagement, weil ihnen aufgrund des Preußischen Vereinsgesetzes die Teilnahme an politischen Vereinen verboten war. Bald schon übernahmen die Schwestern erste Ämter und wurden als Vortragsrednerinnen (mit Referaten über Themen wie „Religion und Sozialismus“ oder „Die Frauenarbeit in der heutigen Gesellschaft“) aktiv. Als das Preußische Vereinsgesetz 1908 fiel, traten die Frauen zur Sozialdemokratischen Partei über.

Bereits 1910 wurde Marie Juchacz in den Rixdorfer Parteivorstand gewählt sowie in den Zentralvorstand des sozialdemokratischen Wahlvereins Teltow-Storkow-Beeskow-Charlottenburg. Um die Diskussion unter Frauen zu stärken, gründete sie die „Arbeitsgemeinschaft für fortgeschrittene und interessierte Frauen“, in der programmatische Texte studiert wurden. Bereits 1913 erhielt Marie Juchacz vom Partei-Bezirk Obere Rheinprovinz das Angebot, in Köln als bezahlte Frauensekretärin zu arbeiten – und damit begann ihre politische Karriere.

Mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen wurde nicht nur die Rolle der Frauen gestärkt, sondern vollzogen sich auch tiefgreifende soziale und politische Umwälzungen. Marie Juchacz engagierte sich im Ernährungsausschuss der Nationalen Frauengemeinschaft, wo die vom Reich rationierten Lebensmittel verteilt wurden. In dieser Zeit beschäftigte sie sich bereits intensiv mit dem Armenrecht und der Armenverwaltung und formulierte die Notwendigkeit einer verbesserten Armenpflege durch gelernte Kräfte aus der Arbeiterschaft. Sie lernte neben der staatlichen auch die praktische private Fürsorge kennen, weil die Nationale Frauengemeinschaft unter anderem Kindergärten, Beratungsstellen für Frauen von Kriegsteilnehmern und Hinterbliebene, Hauspflege für Kranke und Invalide sowie Anstalten für Armenpflege und Kriegsfürsorge einrichtete. Auf Marie Juchacz Initiative hin wurde eine Werkstatt eingerichtet, die Bekleidung für die Armee herstellte und Heimarbeiterinnen Arbeit gab. Damit ermöglichte sie Frauen mit Kindern einen eigenständigen Erwerb.

Politisches Engagement an der Spitze der SPD

Noch vor Kriegsende kehrte Marie Juchacz nach Berlin zurück: 1917 übertrug ihr Friedrich Ebert die Stelle der zentralen Frauensekretärin der SPD sowie die Redaktion der „Gleichheit - Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, die sie in der Nachfolge von Clara Zetkin bis 1921 leitete. Im gleichen Jahr wurde sie in den Parteivorstand der nach einer Abspaltung verbliebenen Mehrheitssozialdemokratie gewählt. Neben dem Engagement für die Frauenrechte war ihr politischer Schwerpunkt die Sozialpolitik. Sie wandte sich der besonderen Notlage und dem besonderen Fürsorgebedürfnis der Mütter zu, die in den Kriegsjahren zunehmend erwerbstätig geworden waren, deren Existenzbedingungen sich zugleich aber zunehmend verschlechtert hatten.

Im Januar 1919 wurden Marie Juchacz und ihre Schwester Elfriede Kirschmann-Roehl gemeinsam mit 35 anderen Frauen in die Verfassungsgebende „Deutsche Nationalversammlung“ in Weimar gewählt. Ihre erste Rede vor dem Parlament am 19. Februar 1919 (überhaupt die erste Rede einer Frau vor einem deutschen Parlament) verdeutlicht das Frauenbild von Marie Juchacz, das historisch erklärlich ist, aber von unserem Verständnis doch bereits deutlich abweicht: „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf [...] dass wir Frauen dieser Regierung nicht etwa [...] Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit; sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist [...]

Wir Frauen werden mit ganz besonderem Eifer tätig sein auf dem Gebiet des Schulwesens, auf dem Gebiet der allgemeinen Volksbildung [...]. Die gesamte Sozialpolitik überhaupt, einschließlich des Mutterschutzes, der Säuglings-, der Kinderfürsorge wird im weitesten Sinn Spezialgebiet der Frauen sein müssen. Die Wohnungsfrage, die Volksgesundheit, die Jugendpflege, die Arbeitslosenfürsorge sind Gebiete, an denen das weibliche Geschlecht ganz besonders interessiert ist und für welches es ganz besonders geeignet ist.“

Der Aufbau der Arbeiterwohlfahrt beginnt

1919 ist auch das Jahr, in dem Marie Juchacz mit dem Aufbau der Arbeiterwohlfahrt beginnt: Zuerst rief sie den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ beim Parteivorstand der SPD am 13. Dezember ins Leben und übernahm zugleich den Vorsitz. Eines der wichtigsten Ziele der neuen Organisation lag in der Verbesserung der staatlichen Fürsorge, die bei der ersten Reichskonferenz näher umrissen wurde: „Die Verhütung von Klassenarmut durch Bekämpfung der Ursachen der Armut, was zum größten Teil nicht Spezialaufgabe der Wohlfahrtspflege, sondern Aufgabe der allgemeinen Politik sei. Aufgabe der Wohlfahrtspolitik dagegen sei es, die überkommenen armenrechtlichen und polizeilichen Maßnahmen durch solche vorbeugender, heilender und vorsorgender Natur zu ersetzen. An Stelle der Fragen nach Würdigkeit und Unwürdigkeit, nach Schuld und Sühne müsse die allein entscheidende Frage nach Heilbarkeit und Unheilbarkeit treten. Der Heilbare sei zu heilen, der Unheilbare zu versorgen.“ Darüber hinaus betrieb die Arbeiterwohlfahrt bald Heime, Kindergärten, Beratungsstellen und Nähstuben.

Marie Juchacz schrieb in der Einleitung zu ihrem Buch über die Arbeiterwohlfahrt: „Arbeiterwohlfahrt - also Wohlfahrt nur für Arbeiter? Nein. Eine Wohlfahrtspflege, ausgeübt durch die Arbeiterschaft. Eine Organisation, hervorgewachsen aus der Arbeiterbewegung, mit dem bewußten Willen, in das große Arbeitsgebiet der Wohlfahrtspflege ihre Ideen hineinzutragen, die Idee der Selbsthilfe, der Kameradschaftlichkeit und Solidarität, aber auch die Idee, daß Wohlfahrtspflege vom Staat und seinen Organen betrieben werden muß, und daß auch diese Arbeit bewußt ausgeübt werden muß von lebendigen Menschen. [...] Die Arbeiterwohlfahrt will nicht wohlwollend geduldet sein, sie verlangt das Recht zur Pflichterfüllung im Staat und in der Gesellschaft. Sie will nicht politische Funktionen der Sozialdemokratischen Partei übernehmen. Sie will an der Verhütung, Linderung und Aufhebung sozialer Notstände mitwirken.“ Bereits im Jahr 1926 zählte die Arbeiterwohlfahrt annähernd 2.000 Ortsausschüsse. Im gleichen Jahr erschien erstmals auch die Monatszeitschrift „Arbeiterwohlfahrt“. 1928 baute die Arbeiterwohlfahrt ihren Schwerpunkt in der Schulungsarbeit zur Wohlfahrtspflege – der bis dahin auf Kurse und Vorträge beschränkt war – aus und eröffnete in Berlin ihre erste und einzige Wohlfahrtsschule, in der Frauen und Männer aus der Arbeiterschaft zu Fürsorgerinnen und Fürsorgern ausgebildet wurden.

Marie Juchacz gehörte dem Reichstag in den Jahren 1920 bis 1933 an. In ihrer politischen Tätigkeit konzentrierte sie sich vornehmlich auf sozialpolitische Fragen. Daneben äußerte sie sich zu frauenpolitisch brisanten Themen wie der Reform des Ehescheidungsgesetzes oder des Paragrafen 218 StGB. Der Schwerpunkt ihres Engagements verschob sich freilich von Partei und Parlament immer stärker hin zur Arbeiterwohlfahrt.

Emigration und Neubeginn

Mit der Machtübernahme Hitlers löste sich die Arbeiterwohlfahrt 1933 selbst auf, um der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Marie Juchacz emigrierte gemeinsam mit ihrem Schwager Emil Kirschmann erst ins Saarland, später nach Frankreich, wo sie im Widerstand und später bei der „Pariser Arbeiterwohlfahrt“ mitarbeitete, und schließlich 1940 in die USA. Hier lernte sie die englische Sprache und baute die „Arbeiterwohlfahrt – Opfer des Nationalsozialismus New York“ auf, die überlebenden Sozialisten der befreiten Länder Pakete schickte. Nach Kriegsende bat sie in Reden, Artikeln und Briefen um Hilfe für die hungernden deutschen Kinder.

Anfang Februar 1949 kehrte Marie Juchacz nach Deutschland zurück. In ihren letzten Lebensjahren war sie bis zu ihrem Tod am 28. Januar 1956 in Düsseldorf Ehrenvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt, deren organisatorische Loslösung von der SPD sie damit noch erlebte. Zuvor war 1955 ihr Buch „Sie lebten für eine bessere Welt“ erschienen, in dem sie das Leben und Werk verstorbener Frauenpersönlichkeiten würdigte.

Zu Ehren von Marie Juchacz wurden in vielen Orten Deutschlands soziale Einrichtungen und Straßen nach ihr benannt. 2003 wurde sie mit einer 1-Euro-Briefmarke der Deutschen Post in der Serie „Frauen der deutschen Geschichte“ geehrt.